Camberg rockt: das Party-Protokoll
Text: Jürgen Siebert | Fotos: Martina Engel
Text: Jürgen Siebert | Fotos: Martina Engel
Es war ein Highlight im Herbst 2025: die Verlagsparty zum Erscheinen des Hefts „Camberg rockt“, präsentiert vom Verein Historisches Camberg (VHC). Über 400 Gäste erlebten im Kurhaus Bad Camberg einen Abend voller Musik, Erinnerungen und Emotionen.
Wer nicht dabei war, hat etwas verpasst. Das Event war – im wahrsten Sinne des Wortes – einmalig und ist daher nicht wiederholbar. Die VHC-Vorsitzende Doris Ammelung: „Wie Woodstock, eben.“
Das soll uns aber nicht davon abhalten, die schönsten Momente des unvergesslichen Abends hier festzuhalten – in Wort und Bild und Ton.
Was wurde eigentlich gefeiert? Na klar: das Erscheinen der 72-seitigen Broschüre „Camberg rockt“, an der ich ein Jahr gearbeitet hatte. Das Heft stellt die vitalsten 20 Jahre der Camberger Musikszene dar, zwischen 1963 und 1983. Beigelegt sind ein Poster mit den Band-Stammbäumen und ein Foto der Band Nylon Euter aus dem Jahr 1981, geschossen vom Hofheimer Fotografen Ferdi Jaklin – ein treuer Begleiter unserer Musikszene.
Die Publikation entstand in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv und dem Verein Historisches Camberg. Und wir waren uns alle drei einig: Eine solche Veröffentlichung kann man nicht einfach in den lokalen Buchhandel sickern lassen. Ihr gebührt ein großes Launch-Event! Keine Vorlesung, sondern eine Party mit Fans, Freunden und Musiker:innen.
Wir legten den Termin fest – 17. Oktober 2025 –, buchten den großen Saal des Kurhauses, die Bar im Foyer und luden die Musiklegenden unserer Stadt zu Talks und Live-Performances ein. Alle sagten zu, einschließlich Markus. Die Vorfreude stieg ins Unermessliche. Wer auf Facebook ist, konnte die Fieberkurve über mehrere Wochen steigen sehen.
Hier kannst du das Plakat für die Camberg rockt Launch-Party als PDF laden …
19:00 Uhr: Der Abend kann beginnen. Die Technik steht. Bernd Pflüger (Kurhaus), Rolf Bäumlisberger (Licht) und Wolfgang Abend (Ton) haben ganze Arbeit geleistet.
Die beiden Live-Acts Jutta König und Wolfgang ten Haaf, die von Thomas Rath am Schlagzeug begleitet werden, haben ihre Instrumente aufgebaut und den Soundcheck absolviert. Martina Engel schießt die ersten Fotos. Mein Handy schweigt seit Stunden, was ich als gutes Zeichen werte: Keiner der Talk-Gäste wird absagen.
Die ersten Zuschauer werfen bereits um 18:00 Uhr einen Blick in den Saal, obwohl das Programm erst um 19:30 Uhr starten wird. Michael Lottermann und seine Begleiter:innen finden sich zu ihrem Jahrgangstreffen im Restaurant des Kurhauses ein. Sie freuen sich auf unsere Show. Und sie sind jetzt schon beeindruckt, dass wir den großen und den kleinen Saal verbunden und komplett bestuhlt haben. [Foto: Jürgen Siebert]
19:30 Uhr. Ich drücke auf meine Fernbedienung: Die Bildershow startet. Genau 171 Folien habe ich für diesen Abend vorbereitet. Die ersten 20 zeigen historische Konzertposter unserer lokalen Bands, in chronologischer Reihenfolge, von den Stamps (1964) bis zu den Vokuhilas (2014). Die Motive wechseln automatisch, mit einer psychedelischen Übergangsanimation. Jedes Plakat steht 80 Sekunden in 10-facher Vergrößerung auf der Leinwand, macht zusammen knapp 27 Minuten Plakat-Geschichte. Die Abbildung oben zeigt die Startfolie mit dem Event-Logo.
19:30 Uhr. Die Poster-Show wird von unserem Discjockey MC Helmut Thies begleitet, der auf diesem Gebiet alles andere als ein Unbekannter ist. Helmut war ab 1971 DJ im Clubkeller. „Der Nebenjob besserte mein Lehrlingsgehalt um 50 Prozent auf“, wird er später auf der Bühne erzählen.
Eineinhalb Jahre später legte er in der „Blue Ranch“ in Kirberg auf. „Das Publikum war etwas schnöselig“, erinnert er sich mit einem Schmunzeln. 1974 wurde er schließlich der erste Discjockey im Club 74 in Esch und schrieb damit ein weiteres kleines Kapitel unserer lokalen Musikgeschichte. [Foto: Sarah Pantermöller]
MC Helmut’s Playlist
The “In” Crowd (Intro) Ramsey Lewis Trio
My Generation The Who
Lazy Sunday Small Faces
Mustang Sally Wilson Pickett
Baby, Come Back The Equals
It’s Five O’Clock Aphrodite’s Child
Old Man Tiger B. Smith
Herzen müssen brennen Jocco Abendroth
Sympathy For The Devil The Rolling Stones
Sgt. Pepper’s Lonely Hearts … The Beatles
19:33 Uhr. Die ersten Poster erscheinen auf der Großleinwand. Dieses hier stammt aus dem Jahr 1969 und bewirbt die Premiere des Musiktrios White Face, das sich kurz darauf in Second Life umbenennen musste (Details folgen) und später Tiger B. Smith hieß. Es war der erste gemeinsame Auftritt von Holker Schmidt, Karl Heinz Traut und Claus Meinhardt.
Das Konzert fand an einem Sonntagnachmittag im Nassauer Hof statt, was aus heutiger Sicht ein merkwürdiger Zeitpunkt ist. Tatsächlich war dies jedoch typisch für Jugend-Events in dieser Zeit. Der gesetzliche Jugendschutz – aber auch die Eltern – erlaubten ihren Kindern damals keinen Konzertbesuch nach 20 Uhr. Das Gesetz schrieb vor: Tanzveranstaltungen unter 16 Jahren nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten, ab 16 Jahren nur bis 22 Uhr ohne Erziehungsberechtigten.
20:03 Uhr. The Party has arrived. Der Live-Auftritt von Jutta König und Thomas Rath ist ein würdiger Opener. Viele Camberger kennen die Liedermacherin und Rockröhre Jutta König nicht, obwohl sie zu den Pionieren der lokalen Musikszene gehört. Sie wuchs in Duisburg auf und kam Mitte der 1960er Jahre nach Camberg, wo sie zur Schule ging und ihre Musikkarriere startete. Von 1976 bis 1978 spielte sie in einer Band mit dem ulkigen Namen Kö·Klo·Ga·Kla·Ma. Die Buchstaben standen für die Familiennamen der Musiker:innen: König, Klouda, Gasi, Glagla und Masal; „Gasi” war der Spitzname von Roland Schmidt, der in der zweiten Talkrunde auftreten wird.
Später war Jutta Mitglied der CT Band von Jocco Abendroth. Von 1988 bis 1996 spielte sie in Frankfurt mit der Band High Time zusammen, die unter anderem als Vorgruppe von Blood, Sweat & Tears auftrat. Heute lebt und arbeitet sie in Neukirch am Bodensee.
Hier auf der Bühne spielt sie ihre beiden Songs Laufen muss man lernen und Schreib in den Sand. Nach dem Auftritt erzählt sie mir: „Die Vorfreude, wieder in Camberg zu spielen, war groß. Ich habe viele bekannte Gesichter wiedergetroffen, auch wenn ich einige nicht sofort erkannt habe. Es war dieses Gefühl … just like coming home.“
20:12 Uhr. Nun beginnt der offizielle Teil der Veranstaltung. Die Vorsitzende des Vereins Historisches Camberg, Doris Ammelung, und ihre Stellvertreterin, Eva Bäumlisberger, begrüßen die Gäste. Der VHC ist der Veranstalter des Abends und Herausgeber der Broschüre „Camberg rockt“, deren Erscheinen heute gefeiert wird.
Beide bedanken sich bei allen Beteiligten und betonen, dass sich der Verein nicht nur der mittelalterlichen Geschichte von Camberg widmet. Jeder sei eingeladen, sich mit Themen aus der jüngeren Stadtgeschichte, die ihn oder sie beschäftigen, im Verein zu befassen. Dann bitten sie den Moderator des Abends auf die Bühne …
20:15 Uhr. Ich starte die Show mit drei Kennenlernfragen. Sie drehen sich um Musik und unsere Jugend.
1. Wer hat schon mal eine Schallplatte nur wegen des Covers gekauft?
2. Wer war mal in einer Band, die nicht spielen konnte – aber der Name war gut?
3. Wer hatte mal eine Frisur, für die er/sie sich noch heute schämt?
Nach jeder Frage reiße ich die Hand hoch und rufe: „Ich!“ Viele im Publikum tun es mir gleich – das Eis ist gebrochen. Meine Antworten erscheinen nach jeder Frage auf einer Folgefolie.
zu 1: Das Album „In the Court of the Crimson King“ von King Crimson. Die Cover-Illustration zeigt das Gesicht des „Schizoid Man“, mit einer Geste zwischen Schock, Angst und ekstatischem Schreien. Den gleichnamigen Song spiele ich kurz an.
zu 2: Ich hatte einmal den Namen und das Logo für eine Band entwickelt, die nie zustande kam: „Theorie & Praxis“.
zu 3: Ich zeige mein Gesicht und meine Frisur vom März 1969, als ich 14 Jahre alt war. Der Bildausschnitt stammt aus dem peinlichen Konfirmationsfoto. Dazu erfinde ich die Pointe, dass ich ein Vorbild hatte. Im Publikum ruft jemand: „Heintje“. „Nein“, antworte ich und blende das Foto von Alfred E. Neumann ein. Das ist eine Witzfigur, die das Magazin MAD in meinem Geburtsjahr 1954 einführte.
Nach den drei Fragen und meinen Antworten ist das Publikum auf meiner Seite.
20:20 Uhr. Nun kommen wir zum Grund unseres Beisammenseins: dem heute erschienenen Sonderheft des VHC mit dem Titel „Camberg rockt“. Der Untertitel lautet: „Bandgeschichten aus drei Jahrzehnten“. Die Hälfte der Besucher hält das Heft bereits in den Händen, denn es wurde am Eingang für 5 € verkauft.
Ich erzähle kurz, wie es drei Jahre zuvor zu der Idee für die Veröffentlichung kam: Ich brachte das Thema bei der VHC-Jahreshauptversammlung am 21. Juni 2022 auf den Tisch. Warum habe ich erst vor einem Jahr mit meinen Recherchen begonnen? Ich musste zuvor noch die beiden Bücher Brücke am Kanal – aus dem Nachlass von Rudolf Naujok, einst Leiter der Gehörlosenschule in Camberg – und Nur ein Lebenszeichen herausgeben, der Briefwechsel zwischen meinem Urgroßvater Friedrich Heil und seinem Sohn Helmut.
20:21 Uhr. Tatsächlich geht es nicht nur um das Heft, sondern vor allem auch um das beiliegende Poster „Die Pioniere“. Es zeigt die Stammbäume der Camberger Bands, die in den 1960er- und 1970er-Jahren gegründet wurden. Insgesamt sind 150 Musikerinnen und Musiker und deren Spuren dargestellt.
Das Plakat ist das Ergebnis wochenlanger Recherchen. Es gliedert sich in die vier Master-Stammbäume Stamps, Tiger B. Smith, Jocco Abendroth und Nylon Euter – einschließlich deren Vorläufer- und Nachfolgebands; zusätzlich gibt es Satellitenstammbäume anderer prägender Gruppen wie Question Mark, Minstrel oder Taft.
Achtung: Das Poster liegt nur der Erstausgabe von „Camberg rockt“ bei. Eine Zweitauflage wird ohne das Poster in den Verkauf gehen. Also beeilt euch und schnappt euch das Heft jetzt bei Bücherbank oder Buch und Schreiben.
Hier kannst du dir das PDF des Stammbaum-Posters laden …
20:30 Uhr. Mit den letzten Sätzen meiner Einführung erläutere ich kurz, warum sich Camberg rockt auf die 1960er, die 1970er und die 1980er Jahre fokussiert. Es gibt zwei Gründe:
1. Die lokale Musikgeschichte: Im Sommer 1963 gründeten sich die Stamps und im Sommer 1982 eroberte Markus mit „Ich will Spaß“ Platz 1 der Deutschen Hitparade und markierte ein Jahr später mit dem Film „Gib Gas – Ich will Spaß“ den Erfolgsgipfel unserer Musikszene.
2. Meine ausgedehnte Jugend in Bad Camberg: Ich lebte bis zu meinem 32. Lebensjahr hier, bevor ich 1986 in Hamburg Chefredakteur der Designzeitschrift PAGE wurde. Ab da verfolgte ich die Camberger Bandkultur nicht mehr, kann also auch nicht fundiert darüber schreiben. Vielleicht findet sich eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für die 90er und die 00er Jahre.
Die drei Piktogramme – sie zieren auch das Cover von „Camberg rockt“ – stehen für den gesellschaftlichen Wandel der Jahrzehnte. Die 60er-Jahre waren vom Wir, von Familiarität und von Geselligkeit geprägt. Während die Erwachsenen dem Ratschlag des Jacobs-Kaffee-Experten folgten und ihre Nachbarn zur „Krönung“ einluden, ließen die Jugendlichen Joints kreisen. Die Prilblume symbolisiert die Annäherung der Generationen in den 1970ern. Mit rund fünf Jahren Verspätung ließen unsere Väter ihre Haare bis über die Ohren wachsen, unsere Mütter trugen plötzlich Jeans und auf den Küchenfliesen signalierten die Blumenaufkleber von Henkel die Wiedergeburt von Flower-Power. In den 80ern hieß es im Werbefernsehen auf einmal „ICH und mein Magnum“ und „Die Freiheit nehme ICH mir“. Die hedonistische Dekade war angebrochen. Ihre Hymne: „ICH will Spaß“.
20:40 Uhr. Nun beginnt die erste von vier Talkrunden. Ich bitte Raimund Thuy und Karl Traut auf die Bühne, um mit ihnen über ihre Bands The Stamps und Tiger B. Smith zu sprechen. Die Stamps waren die erste Rockband Cambergs. Zur Gründung kam es auf einem Campingplatz am Söse-Stausee im Harz; davon gibt es sogar Bilder, die auf der Leinwand zu sehen sind. Die katholischen Jungmännergruppen von Camberg und Berlin-Kreuzberg trafen sich dort im Sommer zu einem Zeltlager.
Einige Jungs aus der rund 20-köpfigen Camberger Gruppe hatten ihre Musikinstrumente mitgebracht. Am Nachmittag vor dem Abreisetag entstand die Idee, ein Abschiedskonzert auf einem selbstgebauten Floß am Seeufer zu geben. Raimund Thuy erinnert sich: „Am Abend spielten dann Heinz Schmidt, Hermann Stumm, mein Bruder Hein Thuy, Helmut ‚der Petter‘ Schmitt und Walter Lottermann bei Fackelschein eine Handvoll aktueller Hits.“
Noch hatte die Band keinen Namen. Dieser entstand erst Wochen später in der Heimatstadt, nach dem zweiten Konzert. Woher er kam, überraschte sogar Raimund Thuy – nach jahrzehntelanger Mitgliedschaft in der Band: „Ich dachte immer, das englische Wort für Briefmarken sei der Namensgeber. Aber nein, weil das Publikum laut klatschte und wild stampfte, griff die Band das Verb to stamp auf und taufte sich The Stamps.“
Elf Jahre nach der Gründung der Band stieß Raimund zur Gruppe, nachdem es durch den tragischen Unfalltod des Schlagzeugers Bodo Weifenbach zu einer Umbesetzung gekommen war. Mit Raimund absolvierte die Band noch weitere vier Jahrzehnte lang Auftritte, bis sie sich anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums im Jahr 2013 mit einem Abschiedskonzert im katholischen Pfarrheim auflöste.
20:45 Uhr. Das Kapitel „Stamps“ kann nicht enden, ohne den Tiger zu erwähnen. Es war der Künstlername des ältesten Bruders von Raimund und Hein Thuy, Helmut. Er machte als Erster den Führerschein und konnte so die Band Mitte der 60er zu ihren Auftritten fahren. Helmut ist heute 81 Jahre alt und zu Gast im Saal.
Damals, im Jahr 1965, wurde Helmut das Warten auf das Ende des Konzerts zu langweilig. Er schlug vor, ab und zu als Gastsänger auf der Bühne zu stehen. Geprägt vom Rock ’n’ Roll trat er unter dem Künstlernamen „Tiger“ auf, inspiriert von seinem Lieblingssong, einem Hit von Peter Kraus, den er zum Besten gab. Der Text ist halb ironisch, halb überdreht und erzählt vom Jagdtrieb eines jugendlichen Frauenhelden.
Während Peter Kraus mit seinem Schlager harmlos selbstironisch blieb, entfaltete Helmut auf der Bühne eine ganz eigene, mitreißende Authentizität. Er war eine Figur voller Widersprüche: Fliegengewicht, Kassenbrille, schüchtern im Alltag. Doch auf der Bühne, wurde er ein anderer, so wie Clark Kent alias Superman. Mit z-förmig gespanntem Körper nahm er die Rolle des Frontmanns an. Seine Körpersprache: ein Mix aus Blitzschlag und Power-Workout.
Ich spiele den Song auf meinem MacBook an, und es kommt, wie es kommen musste: Helmut, der in der zweiten Reihe sitzt, steht auf und zappelt zu Peter Krauses Hit, wie er es seit 60 Jahren gemacht hat. Das Publikum jubelt und klatscht im Rhythmus mit.
20:48 Uhr. Nun hat Karl Traut das Wort. Seine erste Band hieß Dandies und wurde 1964 gegründet. Ihr Frontmann war Karl Klouda, der ebenfalls im Publikum sitzt. Ein Jahr später gründeten Traut und Schmidt mit Thomas Reichwein die Band The Groove, die bis 1969 existierte. Im Herbst desselben Jahres lernten Holker und Karl den Bassisten Claus Meinhardt von den Ducks kennen und gründeten White Face.
Sie war die erste Camberger Band, die ein Album aufnahm – und dabei verlor sie ihren Namen. Was war passiert? 1971 unterschrieb White Face einen Plattenvertrag bei Metronome, um in den Hamburger Windrose-Studios eine LP aufzunehmen. Der erste der fünf Songs hieß „Second Life“, war 21 Minuten lang, belegte die komplette A-Seite und gab dem Album seinen Titel. Diesen setzte der Coverdesigner prominent über das Foto der Band. So entstand der Eindruck, dass es sich bei „Second Life“ um ein selftitled Album handele, das den Namen der Band trägt. Die Panne fiel den Musikern erst auf, als sie die fertige LP in den Händen hielten. Karl Traut: „Plötzlich war unser Bandname weg. Das war eine Katastrophe. Aber wir hatten nicht den Mumm, der Plattenfirma zu sagen: ‚Die Scheiben könnt ihr gleich einstampfen.‘“ Also nannte sich die Band fortan Second Life.
Auch wenn das Album kein Verkaufserfolg wurde, stellte der Titelsong immerhin einen Rekord auf: Das 21 Minuten lange „Second Life“ enthält ein 5 Minuten und 31 Sekunden langes Schlagzeugsolo von Karl Traut. Diese Länge ist bis heute Weltrekord für ein Drum-Solo auf einem Studioalbum.
20:50 Uhr. Anfang 1972 fuhr Holker Schmidt mit seiner Westerngitarre im Gepäck nach Frankfurt, um die Plattenfirma Bellaphon zu besuchen. Das Label hatte seinen Sitz nur fünf Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Dort erwartete ihn der Talentsucher Peter Hauke, der für das neu gegründete Bellaphon-Tochterlabel Bacillus Records nach jungen Rockkünstlern suchte.
Holker spielte ihm seine neuesten Songs vor und sang dazu mit kräftiger Baritonstimme. Hauke war begeistert. Man schloss einen Vertrag, und die Arbeit am ersten Album konnte beginnen. Zuvor musste jedoch ein anderer Bandname her, da „Second Life“ Metronome gehörte. Den hatte Holker aber schon parat. Er wurde ein halbes Jahr zuvor auf Anregung des Bassisten (und Lehrers) Werner Henning geboren, der oft mit der Band probte. Sein Lieblingsfilm war „Tiger Bay“, dessen Titel in Kombination mit Holkers Familienname irgendwann zu „Tiger B. Smith“ wurde.
Das Album Tiger Rock war das Sprungbrett für Tiger B. Smith. Die Band erlangte überregionale Bekanntheit und ging auf ausgedehnte Tourneen durch Deutschland und das benachbarte Ausland. Im Februar 1974 widmete die Jugendzeitschrift BRAVO der Band eine Doppelseite unter dem Titel „Die große Neuentdeckung auf der deutschen Rockszene“.
Wie die Stamps existierte auch Tiger B. Smith mehrere Jahrzehnte lang. Ihr letztes Konzert fand 2015, also 43 Jahre nach ihrer Gründung, statt. Und mit diesem Meilenstein endet dann die erste Talkrunde.
21:05 Uhr. Beginn der zweiten Talkrunde. Ich verabschiede Raimund Thuy ins Publikum und bitte Roland „Gasi“ Schmidt und Helmut Thies auf die Bühne. Wir möchten über den Clubkeller sprechen, der für die Camberger Musikszene eine wichtige Einrichtung war.
Am 30. Dezember 1965 gründete eine Gruppe junger Männer um Manfred Neumann und Walter Lottermann den „Club von Camberg e. V.“ mit dem Ziel, „Kultur, Tradition und Geselligkeit“ zu pflegen. Zu diesem Zweck suchte der CvC Anfang 1966 nach geeigneten Räumlichkeiten und wurde unter der damaligen Bäckerei Henkel in der Frankfurter Straße 10 fündig: drei ungenutzte, miteinander verbundene Gewölbekeller. Kurz darauf begann Neumann, der selbst Architekt war, mit der Planung des Aus- und Umbaus. Um den Zugang vom Guttenbergplatz zu ermöglichen, wurde eine zweigeschossige, hölzerne Wendeltreppe eingebaut. Ende 1966 eröffnete die Vereinsgaststätte unter dem Namen „Clubkeller“.
Dazu lese ich aus dem Heft „Camberg rockt“ vor: „Am 16. September 1967, ein Samstagabend, schreitet der 17-jährige Martin Traut mit einem Stapel geliehener Schallplatten die Holzstufen hinunter. Der Wirt hat ihn eingeladen, zur Unterhaltung der Gäste Musik aufzulegen – ein Versuch. Martin nimmt hinter der Theke Platz, testet das Mikrofon, ordnet seine Notizzettel und bereitet sich auf seinen ersten Auftritt als Ansager vor.
Kurz nach 20 Uhr begrüßt Traut die rund 60 Gäste und legt sofort los: Platz 11 der Hitparade, „Baby Come Back“ von den Equals. Gegen 22 Uhr sind alle Platten gespielt. Noch zwei B-Seiten zum Runterkommen, dann ist der Abend zu Ende. Es war die Geburtsstunde der ersten Camberger Diskothek.“
Eine überraschend köstliche Lektüre ist die Getränkekarte des Clubkeller von 1968, die im Archiv von Martin Traut überlebt hat. Ich hab’ sie nachgebaut. Hier kannst du die Getränkekarte vom Clubkeller als PDF laden …
21:10 Uhr. Der Clubkeller durchlief verschiedene Phasen, bis er im Jahr 2020 für immer geschlossen wurde. 1971 wagte Gabi Henkel, die Tochter des Eigentümers der Immobilie, einen Neustart als „Deutsche Diskothek“. Helmut Thies erinnert sich: „Es gab drei DJs: Joachim ‚Tilly‘ Trost, Stefan Heinisch und Volker Schmidt. Als Volker an einem Freitagabend nicht erschien, fragte mich der Wirt, ob ich mich zutraue, ihn zu vertreten. Na klar, aber unter einer Bedingung: Ich übernehme den gesamten Abend.“
Als Volker mit einer Stunde Verspätung eintraf, saß ich bereits fest im Sattel. Ich spielte internationale Hits, was beim Publikum gut ankam, und bekam am Ende des Abends das Angebot, freitags fortan regelmäßig aufzutreten.“
Im Mai 1976 übernahmen der Königsteiner Nachtclubbesitzer Ingo „Bobby“ Blum und sein Kelkheimer Freund Dragan Marin den Clubkeller, den sie in „Los Caminos” umtauften – spanisch für „die Straßen”. Das mittlere Gewölbe, der größte Raum, wurde für Live-Musik umgebaut, was sich schnell in der Szene herumsprach. Holker Schmidt und Gasi schlugen vor, den Mittwochabend für offene Jam-Sessions zu reservieren und stellten dafür die Technik bereit.
Roland Schmidt: „Wer wollte, brachte einfach sein Instrument mit. Mein Schlagzeug stand dort, Holker steuerte Gitarren- und Bassverstärker bei, und dann konnte es losgehen.“ Bei einer dieser Sessions fanden die Frankfurter Musikproduzenten Axel Klopprogge und Eckard Ziedrich die Besetzung ihrer Retortenband Strassenjungs. Roland: „Holker und Karl waren schon gesetzt. Dann kam eines Tages Nils Selzer mit seiner Band Uranus ins Los Caminos und wurde noch am selben Abend mit seinem Gitarristen für die Strassenjungs verpflichtet.“
21:18 Uhr. Drei Tage später saßen die vier Musiker im Büro der Produzenten Axel Klopprogge und Eckard Ziedrich in Frankfurt. Das Produzentenduo hatte den Erfolg der Sex Pistols in Großbritannien staunend verfolgt und sich gedacht: „Das machen wir auch, aber auf Deutsch.“ Beim Label CBS stießen sie damit auf offene Ohren. Es kam zu einem Plattenvertrag, und das Album „Dauerlutscher“ wurde in Windeseile eingespielt.
Für die Proben mieteten Klopprogge und Ziedrich ein altes Frankfurter Kino. Karl Traut war gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt und musste die dreizehn Songs des Albums in Windeseile einstudieren. Karl auf der Bühne:„Leider hat der Studioschlagzeuger Bernd Kohn, den ich bezahlt hatte, bei den Aufnahmen genau so gespielt, wie ich nie spiele.“ Die Proben im Kino liefen schleppend. Die Band brauchte mehr Übung. Also verlängerten sie das Training, kehrten zurück nach Camberg und probten ein paar Tage im Schützenhaus. Roland: „Ich wurde Roadie der Strassenjungs, zog in die Halle ein und bewachte die Instrumente. Nach drei Wochen konnte ich alle Songs auswendig.“ Das zahlte sich ein Jahr später aus.
21:21 Uhr. Im Herbst 1978 reisten die Strassenjungs zu einem Konzert nach Hannover, das in der Partylocation Rotation am Steintor stattfinden sollte. Roland: „Da es gab es dann ein Problem: Holker konnte wegen einer Mandeloperation nicht singen. Was tun? ,Ei, ich kann das übernehmen‘ sagte ich. Ich kenne alle Texte. Wenige Stunden später stand ich auf der Bühne.“
Roland hatte sich als Punk zurechtgemacht und zog sich mehrfach hinter der Bühne umgezogen. Karl Traut: „Gasi legte sogar einen Striptease zum gleichnamigen Song hin.“ Für das Stück „Lehrling, Stift, Steuerfresser“ zog Roland einen Blaumann und Badelatschen an. In dieser Montur sprang er am Ende auch ins Publikum. Den Text dieses Songs hatte er mit Holker und Maxemüllers Elke geschrieben. Roland zu Karl: „Kannste dich noch erinnern?“. Trockene Antwort: „Ja na klar.“ Lachen im Publikum.
Die Eigenkomposition entstand im Rahmen der Abnabelung von CBS und dem Kreativduo hinter den Strassenjungs. Ziedrich hielt nicht viel von dem Song. Holker war das egal. Er wollte sich durch die Urheberschaft das Recht an Folgeprojekten sichern. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Zu Weihnachten 1978 schenkten Klopprogge und Ziedrich dem Bassisten Nils Selzer die Namensrechte an der Band und Holker zog den Song für eigene Projekte zurück. Unter Selzer wurden die Strassenjungs eine Frankfurter Band. Gleichwohl stießen Anfang der 1980er Jahre noch Mal zwei Camberger Musiker hinzu: Martin Herboldsheimer am Schlagzeug und Mani Masal als Gitarrist.
21:25 Uhr. Zeit für eine kleine Pause. Die Bar vor dem Saaleingang läuf wie am Schnürchen: drei Personen, keine Wartezeit. Schon nach der ersten Hälfte gibt es viel zu besprechen. Ich Treffe Freundinen und Freunde, die ich seit über 40 Jahren nicht mehr gesehen habe: Henry Fahrner und seinen Bruder, Sibylle Ohl-Schneider, ihre Freundin Christine aus Netzbach, Ossi Schneider, Ottes, Lewis …
21:40 Uhr. Der zweite Teil der Release-Party wird – wie der Beginn – mit einem Live-Auftritt eingeleitet. Erneut tritt ein Camberger Musiker auf, den man seit Jahrzehnten nicht mehr auf einer Bühne hier im Ort gesehen hat – genauer gesagt seit 56 Jahren. Damals, im Herbst 1969, Nassauer Hof, schmuggelte sich Wilhelm ten Haaf in die erste Band von Jocco Abendroth. Wie und warum, schildert er in seinem zweiseitigen Essay im Heft „Camberg rockt“.
Auf seiner Website schreibt Wilhelm über sich: „Ich arbeite in zwei Bereichen: schriftstellerisch und musikalisch. Beides tue ich schon sehr lange. Aufgewachsen bin ich in Erbach im Taunus. Der Zusatz ‚im Taunus‘ ist notwendig, da es mehrere Orte mit diesem Namen gibt. Nach vier Jahren Volksschule wechselte ich auf das Fürst-Johann-Ludwig-Gymnasium in Hadamar. Meine musikalische Laufbahn begann mit einer Gitarre für 50 Mark, die ich im Schaufenster eines Fotogeschäftes sah, aber nie bekam. Sie hing ständig in der Sonne und war wahrscheinlich unspielbar.
Meine musikalische Erstbeeinflussung erfuhr ich durch meine Mutter – Mozartfan –, einem Onkel – Jazzpianist beim Hessischen Rundfunk – und dem, was sich in den 60er- und 70er-Jahren in der Musikszene abspielte.
Heute wird er von Thomas Rath begleitet. Wilhelm ten Haaf spielt zwei selbst getextete und komponierte Stücke: Taunus, von der CD Marie (2022), und das neue „Das Radio läuft“. Zur besseren Verständlichkeit der Texte, habe ich sie auf zwei Folie gepackt, die während seiner Darbietung auf der Leinwand zu sehen sind.
21:45 Uhr. Hier der Text des zweiten Songs „Das Radio läuft“:
Das Radio läuft,
irgendwer spricht,
irgendwas geht nicht,
irgendwas ist in Sicht.
Ein Experte,
niemand weiß so recht,
ist doch klar,
was ist und was war.
Das Radio dudelt,
das Fenster verstaubt,
die Bäume dahinter,
noch immer belaubt.
Ich spür wie ich geh
und noch dort steh,
ein letzter Blick:
Es gibt kein Zurück.
Ein Experte,
niemand weiß so recht,
ist doch klar,
was ist und was war.
Das Radio spricht.
Im Glas mein Gesicht
noch voller Fragen,
doch das Glas wird nichts sagen.
Das Radio läuft.
Der Raum ist so leer,
ich bin nur ein Schatten
und fühl‘ mich doch noch so schwer.
Ein Experte,
niemand weiß so recht,
ist doch klar,
was ist und was war.
Das Bild an der Wand,
das ist mir bekannt,
der Raum ist so leer,
ich verstehe nichts mehr.
Ein letzter Blick,
es gibt kein Zurück!
Die Blätter so grün,
ich muss jetzt geh’n
ich muss jetzt geh’n
21:55 Uhr. Die dritte Talkrunde startet. Auf der Bühne: Jutta König, Wilhelm ten Haaf und Thomas Rath. Die drei haben eins gemeinsam: Sie musizierten zwischen 1969 und 1991 mit Jocco Abendroth. Und darüber werden wir gleich sprechen. Zuvor schneiden wir kurz das Thema „Frauen in der Rockmusik“ an.
Ich projiziere das Bandstammbaum-Poster auf die Leinwand: 150 Camberger Musiker:innen und deren Migration in der lokalen Bandszene. Die weiblichen Mitstreiter sind umrandet. Es sind neun, was einer Quote von 6 Prozent entspricht. Jutta König war 1976 die erste Frau in einer Camberger Band; die zweite war Maren Schwand, 1984 bei Minstrel.
Meine Frage an Jutta: „War es schwer als Frau, unter den halbstarken Rockern zu bestehen?“ Sie sagt: „Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich wollte Musik machen. Und das hab ich dann auch getan.“ Die Zusammenarbeit mit Jocco Abendroth in der CT Band (1987) sei intensiv und sehr lehrreich gewesen. „Jocco war ein anspruchsvoller Profi, der alle gefordert hat.“
Danach spricht sie über ihre Zeit in Camberg und die weitere musikalische Entwicklung, nachdem sie die Stadt verlassen hat. Heute sei es nicht mehr so einfach, als Musikerin zu überleben. Die kleinen Veranstaltungsorte haben Corona entweder nicht überlebt, oder sie kämpfen immer noch mit den Folgen. Einen Wunsch hat sie noch an die Camberger: „Ladet mich doch mal zum nächsten ,Sommer im Park‘ ein. Ich wollte schon immer mal auf der Parkbühne spielen.“
22:03 Uhr. Das Mikrofon geht an Wilhelm ten Haaf. Der gebürtige Erbacher ist der einzige lebende Zeitzeuge im Land, der über die frühen Jahre von Jocco Abendroth sprechen kann. Der australische Bassist George Urbazek ist zwar immer noch aktiv, aber vor Jahrzehnten in seine Heimat zurückgekehrt. Joccos erster Schlagzeuger Martin Herboldsheimer, genannt „Ginger“, starb leider vor 3 Jahren.
Es ist ein großer Glücksfall, das Wilhelm schon vor Jahren in seiner Erzählung „Lieber Josef“ die erste Begegnung mit Jocco Abendroth im Stil eines Tagebucheintrags festgehalten hat. Er erlaubte mir den Nachdruck im Heft „Camberg rockt“, wo seine Erinnerungen unter der Überschrift „Nicht nur Mädchen himmeln die Jungs an“ eine Doppelseite belegt. Untertitel: Wie ich mich 1969 in die Band von Jocco Abendroth schmuggelte.
Ich trage die ersten vier Absätze vor:
„An irgendeinem Tag lese ich auf einem Plakat in Erbach, dass eine Gruppe namens ,Fresh Mud‘ auftreten soll. Der Name gefällt mir: Frischer Matsch.
Ich wasche meine Haare, ziehe den bestickten indischen Mantel vom Flohmarkt an, stecke mir eine Mundharmonika in die Tasche und mache mich auf den Weg nach Camberg zum Nassauer Hof.
Der Saal im ersten Stock ist voll.
Die Größen der lokalen Szene beherrschen mit voluminösem Haar, selbstbestickten Jeans, hohen Lederboots und Cowboystiefeln den Zuschauerraum. Manche Gesichter sind von Drogen, manche vom Rauchen gezeichnet. Wieder andere beeindrucken durch die Legende, mit der sie sich umgeben. Das sind die wahren Helden. Nicht nur die Mädchen himmeln die Jungs an.“
Anschließend erzählt Wilhelm ten Haaf noch ein bisschen von der Zeit damals. Er war nur ein paar Monate in Joccos Band. Aber diese Phase hat ihn musikalisch geprägt. Man merkte es nicht zuletzt seinem Gesangsstil an, den wir an diesem Abend bewundern konnten.
Hier kannst du das 2-seitige Essay von Wilhelm ten Haaf als PDF laden …
22:07 Uhr. Nun hat Thomas Rath das Wort. Er war gleich zweimal festes Mitglied in Joccos Bands: von 1983 bis 1984 und von 1989 bis 1991. Wir sprechen zunächst über die erste Phase.
Thomas spielte zuvor bei Question Mark (1979), danach bei Taft (1981/82) und die Könige (1982). Wenige Wochen nach deren Auflösung probte er im „größten Übungsraum Deutschlands“: eine Halle hinter der Gaststätte Zum Herpes in Oberselters. „Eines nachmittags stand Jocco draußen und beobachtete mich durch die Fenster. Die Halle war verschlossen. Ich habe nichts von seinem Besuch mitgekriegt. Er muss mir eine Weile zugeschaut haben, denn als wir uns ein paar Tage später trafen, erinnerte er sich an eine Menge Details meiner Spielweise.“
Jocco war beeindruckt und wollte Thomas in seiner Band haben. „Das war für mich ein tolles Angebot, denn er hatte in Würges einen gut ausgestatteten Proberaum.“ Dort probten Mitte 1983 Henry Fahrner an der Gitarre, George Urbaszek am Bass, Henning Hölter am Keyboard, der britische Saxofonist Dave Kreitner und natürlich Jocco Abendroth. Um die neuen Songs öffentlich zu präsentieren, trat die Band öfters in der Diskothek Aoxomoxoa in Taunusstein-Neuhof auf.
Diese Phase in Thomas’ Karriere endete noch im selben Jahr. „Ich hatte mich mit Urbaszek zu einer sogenannten Rhythmusprobe getroffen. Plötzlich gab es einen Kurzschluss, und innerhalb kürzester Zeit breiteten sich Flammen aus. Wir konnten zwei, drei Sachen raustragen, und dann ging alles sehr, sehr schnell. Ich bin vorne ins Haus gerannt, um die Feuerwehr zu alarmieren. Als ich zurück kam, um weitere Instrumente zu retten, stand schon die ganze Hütte in Flammen.“ Thomas verlor zwei Drum-Sets, einen Bass, einen Verstärker und weiteres Equipment.
Nachdem der Übungsraum vom Erdboden verschluckt war, zog es Jocco nach Frankfurt, wo er den nächsten Karriereschritt mit einer komplett neuen Besetzung vorbereitete.
22:09 Uhr. Ende 1986 kreuzten sich die Wege des Frankfurter Erfolgsproduzenten Peter Hauke und Jocco Abendroth. Hauke hatte in den 1970er Jahren viele erfolgreiche Alben produziert, darunter auch zwei von Tiger B. Smith und Soloprojekte von Holker Schmidt. Er war beeindruckt von Joccos Songmaterial, das in den Jahren 1985 bis 1986 entstanden war. Das Plattenlabel Metronome signalisierte Interesse, nachdem deren A&R-Team die Demo-Tapes angehört hatte.
Das Album „Viel zu heiß“ wurde in Angriff genommen. Die Kernbesetzung der Abendroth-Band waren zu diesem Zeitpunkt Mathias „Muli“ Müller (Gitarre), Howard Scarr (Keyboard, Piano), Wolfgang Stamm (Schlagzeug), Ulli Lauterbach (Bass) und natürlich Jocco. Die zehn Songs des Albums wurden in drei Studios aufgenommen: dem Hotline Studio in Frankfurt, dem Master Studio in Offenbach und dem legendären Can Studio in Weilerswist, wo es auch abgemischt wurde. Alle Titel sind von Jocco geschrieben, bei zwei unterstützte ihn Muli Müller.
Als Single wurde „Herzen müssen brennen“ ausgekoppelt, das eingängigste Stück. Es wurde ein überregionaler Erfolg, weil es ein Radio-Hit war. Schnell sprach sich herum, dass es mit Jocco Abendroth eine ernsthafte Größe im deutschsprachigen Rock gab.
22:12 Uhr. Der Erfolg von „Herzen müssen brennen“ ermutigte Peter Hauke, zwei weitere Alben zu produzieren: Jocco Abendroth (1989) und Noch ’n Stück (1990). Zu diesem Anlass baute Abendroth die Stammbesetzung seiner Band erneut um: Hansi Malolepssy spielte jetzt Bass und Thomas Rath kehrte wieder am Schlagzeug zurück. Parallel dazu engagierte Hauke Spitzenstudiomusiker, darunter Clivia Christina und Sabine Heil als Backing-Vocals und den Trompeter Jo Reitz.
Beide Alben konnten allerdings nicht an den Erfolg von „Viel zu Heiß“ anknüpfen.
Das Foto oben hat der Berliner Star-Fotograf Jim Rakete in der Nähe von Hamburg für die Marketingabteilung von Metronome geschossen.
22:20 Uhr. Nun startet die letzte der vier Talkrunden. Auf der Bühne begrüße ich Thomas Minor und Markus. Laut dem Poster Camberg Bands war und ist Thomas Mitglied bei 19 Formationen, und damit Spitzenreiter in Sachen Bandanzahl. Wir können aauf der Bühne nicht alle anschneiden, aber wenigstens die zweite, nach Lonelyness. Sie hieß Alptraumcombo, und der Name war Programm. Thomas Minor erinnert sich so an das Casting: „Der Gitarrist Axel Wunram aus Idstein überzeugte uns mit seiner soliden Gibson SG ... aber sein Schrammel-Stil passte nicht so ganz zu unserer Musik“.
Zum Glück gab es mit Uwe Beck einen zweiten Gitarristen. Er überzeugte nicht nur musikalisch, sondern brachte mit seiner umfangreichen Plattensammlung auch ein breites Repertoirewissen in die Probenarbeit ein. Doch die Alptraumcombo schaffte es nicht über einen Auftritt hinaus, genauer gesagt: einen halben. Vor dem Konzert im Club 74 in Esch stellte der Veranstalter der Band noch eine Clubtour in Aussicht, in der Pause bat er sie dann höflich, den Auftritt vorzeitig zu beenden.
Dann widmen wir uns der erfolgreichsten Combo mit Thomas Minors Beteiligung – und der von Markus: Nylon Euter. Die Band existierte von 1978 bis 1983, und zur Freude aller sind zwei weitere Mitglieder an diesem Abend im Publikum: Henry Fahrner und Elmar Holm. Wir schauen uns offizielle Fotos, aber auch private Aufnahmen an, darunter das oben abgebildete Schwarzweißfoto aus meinem Archiv, aufgenommen 1979, auf dem Werner Minor († 2024), Thomas Minor und mein Kumpel Wolfgang Rausch zu sehen sind.
22:22 Uhr. Ihren ersten Auftritt absolvierte Nylon Euter am 24. Februar 1978 beim Lumpenball im katholischen Jugendheim, veranstaltet vom Carneval Verein Camberg. Die Band hatte damals noch kein eigenes Repertoire. Sie spielte Coverversionen populärer Songs der 60er Jahre, darunter „Hit the Road Jack“ von Ray Charles und den „Popocatepetl-Twist“ von Caterina Valente und Silvio Francesco.
Das Motto hinter den Kulissen lautete: Jeder soll das auf die Bühne bringen, was er am besten kann und sein Talent ausleben. Dementsprechend bunt war das Programm. Es gab Verkleidungen, Rollenspiele und humorvolle Einlagen zwischen den Liedern. Auch stilistisch war das Konzept offen: Die Setlist mischte Rock, Reggae, Funk und Schlager – mit einem Hang zur Übertreibung, aber ohne Kalkül.
Werner Minor bewies schon früh ein sicheres Gespür für Organisation und Kontakte. Dank seines Engagements traten Nylon Euter bald nicht nur in der Region, sondern überregional auf. Die Band war beliebt, gewann viele Fans, war aber schwer einzuordnen. Thomas Minor:„Wir waren ein Zwitterding: Den Punks nicht punkig genug und den Poppern zu chaotisch.“
22:24 Uhr. Einer meiner Lieblingssongs zu dieser Zeit war Planet Claire, im Original von der US-Band The B-52’s. Es war meistens die erste Nummer nach einer Pause, in der sich die Band Plastikkittel, Gummihandschuhe und 60er-Jahre-Blumenbadekappen mit abgerupften Blüten überzog. Eine dieser Kappen hat Thomas in seinem Rucksack dabei, und er zieht sie unter dem Applaus des Publikums noch mal auf.
Bei einem Konzert 1981 in Camberg saßen zwei in der Szene längst bekannte Frankfurter im Publikum: Axel Klopprogge und Eckard Ziedrich, die Produzenten der Strassenjungs. Sie waren beeindruckt von der Originalität der Band und dem Zusammenspiel auf der Bühne. Nach dem Konzert trafen sie sich bei Thomas Minor. Das Gespräch war eine Mischung aus Lob, Neugier und Skepsis. „Viel Kraft, viel Potenzial“, sagten die Produzenten, „habt ihr noch mehr eigene Stücke in Arbeit? Manches klingt noch etwas gekünstelt.“ Trotzdem lud Klopprogge die Band für die kommende Woche in sein Frankfurter Tonstudio ein.
Dort zog er eine Schublade auf und holte ein Band heraus. „Ich habe hier einen Titel, der zu euch passen könnte. Aber der ist auf Englisch ... also euer Bandname passt nicht so richtig dazu.“ Der Song hieß „Forever Young“ und hatte weder mit dem Lied von Bob Dylan noch mit dem drei Jahre später erscheinenden Megahit von Alphaville zu tun. Sie nahmen ihn auf und boten ihn der Plattenfirma Metronome an – unter dem Bandnamen The Deutschmarks.
Vier Wochen später erschien die Single, die in Deutschland floppte, aber immerhin in Spanien ein Achtungserfolg wurde.
Weil weder im Netz, noch auf Thomas Minors Computer digitalsierte Versionen von Nylon-Euter-Songs zu finden waren, spiele ich zum Abschluss den Titel „Viertel vor Acht“ der Nachfolgeband Pasta Basta (1983 – 1987). [Foto: Reklame Heinrich; Montage: Jürgen Siebert]
22:33 Uhr. Nun freue ich mich auf den letzten Talkgast des Abends, Markus Mörl. Er war mehrere Jahre Mitglied von Nylon Euter. Als die Band im Herbst 1981 mit den Aufnahmen ihres ersten und einzigen Albums begann, war er noch dabei. Aber irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Thomas Minor: „Markus erschien auf einmal unregelmäßig zu den Proben und gab knappe, ausweichende Erklärungen ab: Ja ... nein, ich kann nicht. Okay, bis zwölf, dann muss ich wieder weg.“
Erst später wurde bekannt, dass er zu diesem Zeitpunkt schon mit Axel Klopprogge an seiner Solokarriere arbeitete, meist nachts. Ich war zu dieser Zeit ebenfalls häufiger mit Markus zusammen. Er war in der Freien Universität Berlin eingeschrieben, wo ich ihn 1981 zweimal besuchte. Uns zog es nicht nur in die Clubs der Stadt, sondern auch nach Ostberlin zu meiner Brieffreundin Petra, die uns aufregende geheime Orte zeigte.
Am 5. Mai 1981 besuchten Markus und ich das Konzert der britischen Polit-Punkband Gang of Four im SO 36 in Kreuzberg. Es war ein wahnsinniger und inspirierender Auftritt, der uns beide ansteckte. Mich fazinierte der Gitarrist Andy Gill, der sein Instrument wie ein Maschinengewehr einsetzte. Markus war begeistert vom Sänger Jon King, vor allem von seinen Bewegungen und seinem Tanzstil. Noch auf dem Weg nach Hause imitierte er ihn. Und genau ein Jahr später – am 10. Mai 1982 – bewegte sich Markus bei seinem ersten TV-Auftritt in der Sendung Musicbox zu „Ich will Spaß“ im Stil von Jon King. Zwischen den Musikstilen liegen Welten, aber die Körpersprache hatte sie vereint.
Gang of Four mit einer Live-Aufführung ihres größten Hits „To Hell With Poverty“ im britischen Fernsehen, 1980
22:36 Uhr. 1981 trafen sich Markus und Klopprogge regelmäßig zum Songschreiben in dessen Jugendzimmer im Elternhaus in Hofheim. Markus: „Zwischen Teddybären, Fußballwimpeln und alten Micky-Maus-Heften komponierten wir die ersten Songs.“ An einem Nachmittag entstand auf einem Mini-Keyboard die Melodie zum späteren Hit „Ich will Spaß“. Anfangs hieß das Lied „Ich will Tanz“. Dazu gab es auch eine Choreografie … wir kennen inzwischen die Inspiratinsquelle. Im Mittelteil hieß es „Rosi, Rosi, spürst du mich?“, eine Zeile, die sie bald wieder verwarfen. Nur ein halbes Jahr zuvor hatte die Spider Murphy Gang mit „Skandal im Sperrbezirk“ bereits eine Rosi besungen. Was nun?
Die Lösung kam während einer Autofahrt. Axel und Markus fuhren im Ford Taunus, irgendwo am Frankfurter Kreuz, im Schleichtempo hinter einem Lkw her. Langsam, fast gemächlich zog auf einmal ein rostiger Opel Kadett an ihnen vorbei. Am Steuer: ein Mann mit Sonnenbrille und Kopfhörern, der laut singend mit dem Kopf wippte, vergessen in seiner eigenen Welt.
„Der Typ war verdammt gut drauf“, erinnert sich Markus. „Axel schaute rüber und sagte nur: ,Das ist es. Das ist unser Thema.‘“ Aus dem Opel wurde ein Maserati, der 210 fährt. Aus „Ich will Tanz“ wurde „Ich will Spaß, ich geb Gas“ ... ein hedonistisches 80er-Jahre-Statement mit dem Potenzial zur Provokation, zwei Jahre nach der zweiten Ölkrise.
Der Song „schlug ein, wie ein Kugelblitz“ (BRAVO). Markus gehörte über Nacht zu den Pionieren der Neuen Deutschen Welle und überlebte sie unbeschadet … mit Langzeitwirkung – auch wenn ihn der Typ am Empfang des Sonnenstudios Happy Sun in der Bahnhofstraße jüngst mit dem Satz begrüßte: „Du bist doch mal Markus gewesen?“ Er ist es immer noch.
22:41 Uhr. Der Abend endet, wie er begonnen hat: Mit drei Fragen. Diesmal sind sie nicht an das Publikum, sondern an Markus gerichtet:
1. Hast du mal was mit Nena gehabt?
Markus beginnt zwar mit „Die nächste Frage bitte“, schiebt dann aber zwei Erlebnisse mit Nena hinterher, die den Schluss zulassen: Da muss was gewesen sein.
2. Waren die 10.000 DM in deiner Bühnenhose Schwarzgeld?
Hintergrund: Nach seinem ersten Fernsehauftritt war seine Mutter immer noch der Ansicht, dass er in Berlin studiere. Doch Markus hatte sein Studium schon ein halbes Jahr zuvor geschmissen. Dann fand seine Mutter eines Tages in seiner Bühnenhose 10.000 Mark, und Markus musste alles beichten. Auf der Bühne sagt er: Ich glaube, es waren nur 1000 Mark, in Vorschuss. Der Saal lacht.
3. Welche NDW-Hymne bringt den 80er-Jahre-Zeitgeist genau auf den Punkt?
Eine Suggestivfrage. Nachdem ich zu Beginn des Abends auf den Zeitgeist der 80er Jahre eingegangen war – das hedonistische Jahrzehnt –, kann es auf diese Frage nur eine Antwort geben: Ich will Spaß.
Zu meiner großen Freude überrascht mich Markus mit dem Geschenk des Abends: Er geht auf die linke Seite der Bühne, wo Gitarre und Mikrofon noch angeschlossen stehen, und stimmt eine Unplugged-Version seines größten Hits an. Der ganze Saal klatscht und singt mit.
22:56 Uhr. Der Abend neigt sich dem Ende zu. Doch eine Antwort bin ich den Besucherinnen und Besuchern noch schudig: Warum hat Camberg eine derart lebendige und kreative Musikkultur?
Nach einem Jahr Recherche haben sich für mich fünf Triebfedern für die Camberger Bandkultur herauskristallisiert. Ich nenne sie scherzhaft auch die Fünf Ks:
Kirche: Sie stellte die geistigen und physischen Räume für Musikliebhaber:innen bereit: das Orgelspiel, den Chor, das Jugendheim mit seinem Saal. Und sie organisierte Begegnungen, wie Zeltlager (Stamps), Kreuzkapellenfest oder Jugendtreffs. Darüber hinaus waren der Vater wie auch der Sohn Heinrich Thuy musikalisch in der Kirchengemeinde aktiv: im Chor und an der Orgel.
Karneval: Er ist mehr als Kostüm, Umzug und Alkohol: das große Aufbäumen vor der 40-tägigen Fastenzeit. Für ein paar Tage steht die Stadt Kopf. Die Fastnacht ebnet den Weg für Ausgelassenheit, Maskierung, Demaskierung und laute Töne. Der traditionelle Lumpenball war und ist das Forum für neue, lokale Live-Musik.
Kreuzkapelle: Sie war (und ist) mehr als eine Taunuskulisse. Ihre majestätische, verkehrsgünstige Lage machte sie zur Weihestätte für Passionen – positive wie negative, je nach Weltsicht: Musik konsumieren oder machen, Drogen konsumieren oder dealen.
Charisma: Es waren Musiker mit Strahlkraft, die andere mit dem Rock-Virus infizierten. Frei nach Isaac Newton: „Wenn wir weiter gesehen haben, dann nur, weil wir auf den Schultern von Giganten standen.“
Cannabis: Camberg kam an Drogen nicht vorbei und die Drogen nicht an Camberg. Die geografische Achse Amsterdam — Frankfurt (Autobahn A3) wurde für den Transport weicher und harter Drogen genutzt. Stop- over: Camberg i. Ts.
23:02 Uhr. Ganz am Ende ist es mir doch noch ein Anliegen, auf die E-Book-Version von „Camberg rockt“ aufmerksam zu machen. Es gibt sie für alle drei Plattformen: Apple (iPhone, iPad, Mac …), Android (Samsung, Smartphones, Tablets) und für Kindle (Fire oder die Kindle-App, auf jede Art von Gerät). Der Vorteil des E-Books: es passt in die Hosentasche, es ist genau so gestaltet wie das gedruckte Heft, aber: Du kannst Grafiken wie die Band-Poster, die Clubkeller-Getränkekarte, den Bandstammbaum oder die „Camberg Bands“-Infografik (4. Umschlagseite) bis zum kleinsten Detail vergrößern. Hier geht es zu zum E-Book für dein Gerät …
23:05 Uhr. Ein großer Applaus brandet auf, Standing Ovations … ich bin beeindruckt. Vielen, vielen Dank für euer Interesse.
[Foto: Fam. Holker Schmidt]