Sein Unterricht prägte zwischen 1910 und 1942 zwei Schülergenerationen in Camberg. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit der Geschichte des Goldenen Grunds. Darüber hinaus setzte er Maßstäbe für bürgerschaftliches Engagement. Zum Leben und Vermächtnis von Friedrich Heil.
Jürgen Siebert, im Mai 2025
Friedrich Heil 1949; Studioaufnahme: Willi Schmidt, Montage: Jürgen Siebert
Es war der letzte Sonntag im September 1954. Im Hochparterre des Hauses Mühlweg 9 in Camberg tritt meine Großmutter an das Sterbebett ihres Vaters Friedrich Heil und überbringt ihm die Nachricht: „Du bist heute Urgroßvater geworden“.
Der 77-Jährige ist müde – erschöpft nach einem beschwerlichen, aber erfüllten Leben, das ihn durch zwei Weltkriege geführt hat. Er hat drei Kinder großgezogen, den erstgeborenen Sohn Erich im Alter von 46 Jahren verloren, die Geburt von sechs Enkeln erlebt, vier davon starben im Kindesalter. Was bedeutet da die Ankunft eines weiteren Erdenbürgers? Was die Beförderung zum Urgroßvater, so kurz vor dem Abschied? Entsprechend schroff fällt seine Reaktion aus: „Lasst mir die Ruh’!“, kommentiert er die Nachricht von meiner Geburt.
Weil meine Oma Gertrud diese stille Post zwischen Urgroßvater und Urenkel immer wieder erzählt hat, ist sie im Familiengedächtnis geblieben. Und nur deshalb kann ich ihm heute antworten: „Deine Ruhe gönn’ ich dir, Fritz – aber deine Worte sollen noch nicht ruhen!“
Der Konfirmant Friedrich Heil, 1891 in Weilburg
Aus den Erzählungen meiner Familie weiß ich, dass Friedrich Heil eine starke Persönlichkeit war, deren Wesen zwischen Strenge und Güte lag. Max Hermann Schmidt, Verfasser des Heimatspiels Gerhard Langenbach – der Schultheiß von Camberg, zu dem mein Urgroßvater die historischen Unterlagen besorgte, bemerkte dazu in einem biografischen Abriss: „Gerade in der Verschmelzung dieser an sich gegensätzlichen Eigenschaften lag die Individualität dieses Mannes, dessen scheinbare Strenge doch nie die altruistische Grundhaltung verbergen konnte. Sie zog sich wie ein roter Faden durch sein Denken und Handeln. Friedrich Heil war nicht humorlos, lehnte aber plumpe und billige Scherze entschieden ab. In angeregter Gesellschaft war er von aufgeschlossener Unterhaltsamkeit; wenn er aber auf Anmaßung und Unbelehrbarkeit stieß, konnte er von erfrischender Deutlichkeit sein“.
Geboren wurde Friedrich Heil 1877 in Dehrn als Sohn des Grubenarbeiters Philipp Heil. Seinen Vater, von dem er wohl die charakteristischen Züge geerbt hatte, beschrieb er als strengen, herben Mann: „Ein lachendes Gesicht stand ihm nicht. Und doch war er innerlich sehr weich und leicht zu Tränen gerührt“. Seine Mutter Christine, geb. Müller, kümmerte sich liebevoll um ihren einzigen Sohn: „Ich war der Jüngste und ein verwöhntes Nesthäkchen.“
Im Alter von 65 Jahren schrieb er seine „Kindheitserinnerungen“ auf. Ich habe den Aufsatz 2021 in dem Buch Vom Regen in die Traufe veröffentlicht. Wir erfahren, dass seine Mutter Christiane sich mit „besonderer Liebe“ und Fürsorge um ihn gekümmert hat, was sicher auch daran lag, dass drei seiner vorgeborenen Brüder im Kindesalter gestorben waren.
Schon als Kind beschäftigte ihn die Pädagogik - mehr oder weniger unfreiwillig. Als Geigenschüler verschliss Fritz ab dem neunten Lebensjahr vier Musiklehrer, alle „problematische Pädagogen“, wie er später notierte. Seine Erinnerungen zeigen, wie hilflos der Unterricht damals war. Wahrscheinlich beschloss der Schüler Heil bereits in dieser Lebensphase, Lehrer Heil zu werden und die Fehler dieser Zeit zu überwinden.
In Dehrn wurde auch der Grundstein für Friedrich Heils Liebe zur Natur und zum Gartenbau gelegt. „Zuerst hatten wir einen kleinen Garten am Haus. Später kaufte mein Vater einen angrenzenden Acker dazu, so dass wir einen schönen großen Hausgarten hatten.“ Diese Grundstückspolitik imitierte Friedrich Heil Jahrzehnte später hinter seinem Haus in Camberg, wo er links und rechts von Nachbarn Gartenland erwarb. Hier pflanzte er vor allem Obstbäume und Beerensträucher an, wie sein Vater, der aus den Früchten am liebsten Wein kelterte, den er seinen Gästen mit großer Freude kredenzte.
Wie rau es damals unter den Kindern zuging, zeigen die Anekdoten von den „Limburger Gassenbuben“, die ihn auf dem Weg zum Musikunterricht hänselten und angriffen. Auslöser der Feindseligkeiten waren entweder Banalitäten wie ein Geigenkoffer aus Wachstuch oder die Religionszugehörigkeit. Protestanten beschimpften Katholiken als Kreuzköppe, umgekehrt sprach man von Blauköpfen.
Neben den Konflikten gab es aber auch schöne Momente, zum Beispiel die jährliche Kirmes oder die Jahrmärkte Ende des 19. Jahrhunderts: „Der Dietkircher Markt war für uns Kinder der größte Spaß“. Auf solchen Veranstaltungen lockten skurrile Alleinunterhalter ihr Publikum an, wie die Elzer Liss, eine blinde Drehorgelspielerin, oder Der Wahre Jakob, der auf einer Kiste laut schreiend und mit derbem Humor seine Waren anpries. Manches davon wurde von den Behörden als unlauterer Wettbewerb oder verbotenes Glücksspiel verboten.
Ein Ereignis aus seiner Jugend ist Friedrich Heil besonders in Erinnerung geblieben: die erste Kinovorstellung, „eine Sensation“. Die Szene, in der ein Mädchen das Schlafzimmer betritt, sich auszieht, unter die Decke schlüpft, sich hinter ihr der Vorhang öffnet und ein Mann mit Zylinder erscheint ... erinnert an spätere Vampirfilme.
Friedrich Heil 1902 im Alter von 25 Jahren in Niederschelden, kurz vor der Hochzeit
Von 1893 bis 1899 erhielt Friedrich Heil seine pädagogische Ausbildung an den Lehrerseminaren in Dillenburg und Usingen. Das Lehrerseminar war damals die konfessionell getrennte Ausbildungsstätte für angehende Volksschullehrer. In den 1920er Jahren wurden die letzten Lehrerseminare in Deutschland geschlossen; seitdem findet diese Ausbildung an Pädagogischen Akademien und Universitäten statt.
Die erste Lehrerstelle trat Friedrich Heil 1899 in Steinperf an, das er gerne als „Nassauisch-Sibirien“ bezeichnete. Steinperf (mundartlich Steeprof) ist ein Dorf im hessischen Hinterland und als solches ein Ortsteil der Gemeinde Steffenberg im Landkreis Marburg-Biedenkopf; durch den Ort fließt die namensgebende Perf, die bei Biedenkopf in die Lahn mündet.
Vier Jahre später heiratete mein Urgroßvater in Niederschelden Elise Katz, die ein Jahr später meine Großmutter Gertrud zur Welt brachte. Im gleichen Jahr wurde der Vater nach Bechtheim versetzt, wo 1905 der Sohn Erich geboren wurde. Nach Camberg zog die Familie 1910, wo dann 1915 der jüngste Sohn Helmut zur Welt kam.
32 Jahre lang prägte Friedrich Heil das schulische Leben der Stadt: als gewissenhafter Pädagoge, als Begleiter und Vorbild für Generationen von Schülerinnen und Schülern. Er verstand es, seine Schützlinge nicht nur durch die Wirren und Umbrüche der Zeit zu führen, sondern sie auch im Geiste einer offenen, menschlichen Haltung zu erziehen.
Friedrich Heil, Camberg im Juni 1941
Friedrich Heil hat neben seinem Beruf Werte geschaffen, die sein Leben überdauert haben. Über die Grenzen der Landschaft hinaus, in der er wirkte, ist sein Name nicht bekannt geworden. Für den Goldenen Grund und für die Stadt Camberg aber war er eine Persönlichkeit von stadtgeschichtlicher Bedeutung.
Es entsprach ganz dem Wesen Friedrich Heils, dass er sich – obwohl ihn sein geliebter Lehrerberuf voll ausfüllte – in seiner Freizeit einer Beschäftigung widmete, die mehr in die Tiefe als in die Breite ging: der Heimatkunde. Aus dem, was man damals wohl als „Steckenpferd“ bezeichnet hätte, entwickelte sich bald eine ernsthafte Beschäftigung mit der Heimat- und Stadtgeschichte sowie eine planmäßige Familienforschung.
Über Jahrzehnte forschte Heil mit großer Ausdauer. In mühevoller Kleinarbeit durchforstete er verstaubte Akten in Archiven nach Daten und Hinweisen auf historische Ereignisse, die sich auf dem geschichtsträchtigen Boden seiner Heimat abgespielt hatten.
Die Ergebnisse seiner Forschungen fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Vorträgen, Aufsätzen, Zeitungsartikeln und leider nur wenigen Büchern, die heute noch im Stadtarchiv Bad Camberg zu finden sind.
Sein literarisches Talent, seine Gabe, spannend und lebendig zu erzählen, hat Friedrich Heil leider nur selten ausgelebt. Wie eindrucksvoll er sie beherrschte, zeigt das schmale Büchlein „Camberger Kriegserlebnisse 1619-1625“, in dem er mit poetischem Einfühlungsvermögen die menschlichen Schicksale jener Zeit lebendig werden ließ.
In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass er für das Heimatspiel „Gerhard Langenbach, der Schultheiß von Camberg“ alle historischen Grundlagen zusammentrug. Friedrich Heil gab der Figur des alten Schulmeisters Seelbach in diesem Stück durch sein würdevolles Auftreten und seine markanten Charakterzüge ein unverwechselbares Gesicht.
Friedrich Heil engagierte sich aber nicht nur als Lehrer und Forscher, auch im öffentlichen Leben setzte er sich erfolgreich für das Wohl der Stadt und ihrer Bürger ein. Während seiner gesamten Dienstzeit war er Organist der evangelischen Kirchengemeinde Camberg-Niederselters. Zeitweise unterrichtete er auch an der Städtischen Berufsschule. Dreizehn Jahre lang leitete er als Dirigent den örtlichen Männergesangverein und war Anfang der dreißiger Jahre Mitglied des Camberger Magistrats.
Ich bin stolz darauf, einige der Texte meines Urgroßveters dank moderner Reproduktionstechniken – Books on Demand, E-Books und Internet – zu neuem Leben erwecken zu können.
Ritter von Hattstein
enth.: ,Die Ritter von Hattstein und der Guttenberger-Hof zu Camberg (Chronik eines Hauses)‘ und
,Friedrich von Hattsteins Glück und Ende (Eine Erzählung aus der Raubritterzeit)‘
Friedrich Heil im Selbstverlag, 1928
Camberger Kriegs-Erlebnisse 1619 – 1625
„Drumm, Drumm, Drumm, hüte dich, Bauer, ich kumm!“
Kriegserlebnisse der Einwohner im ehemaligen gemeinschaftlichen Amt Camberg,
Friedrich Heil im Selbstverlag, 1930
Taunus-Sängergruß
Für Männerchor komponiert von Georg Zitzer, Worte von Friedrich Heil;
Fr. Aug. Becht Taunus-Musik-Verlag, Camberg 1930
Nur ein Lebenszeichen
Ansichten aus Camberg in Briefen 1937 – 1945
Im Anhang: ,Von der Hühnerstraße zum Wolgastrom‘ (Aufsatz)
Herausgegeben von Jürgen Siebert im Selbstverlag, Bad Camberg/Berlin 1994
Vom Regen in die Traufe
Wetter- und Kriegstagebuch 1940 – 1945
Im Anhang: ,Erinnerungen aus der Kindheit‘
1. Auflage, Taschenb., Jürgen Siebert, Berlin 2021, 116 S., ISBN 9798753452474; auch als E-Book
Nur ein Lebenszeichen
Ansichten aus Camberg in Briefen 1937 – 1945
2. Auflage, Paperback, Jürgen Siebert, Berlin 2025, 256 S., ISBN 9783759769541; auch als
E-Book
Eine deutsche Ohrfeige und eine russische Antwort
in: Nassauische Heimat, Beilage zur Rheinischen Volkszeitung, Nr. 7, 1. April 1927, S. 48,
Heimatkunde, Heimatgeschichte, Heimatliebe
Vortrag zur Grundschul-Pädagogik, 11 S., ca. 1930, unveröffentlicht
Blutsverwandtschaft
Vortrag über Ahnenforschung, 9 S., Nov. 1934, unveröffentlicht
Abracadabra: Allerlei Mittel aus Urgroßvaters Hausapotheke
in: Hessenspiegel, 1. Jhrg., Nr. 15, 12. August 1924, S. 6ff
Das Jahr 1813 in Camberg
8-tlg. Serie in: Camberger Anzeiger, Juli 1931
Die Geschichte der kath. Pfarrkirche in Camberg
8-tlg. Serie in: Allgemeine Bürger-Zeitung (Camberger Zeitung), Juni 1925
Camberg im Taunus.
Zu seinem 650jährigen Stadtjubiläum am 28. August 1931
in: Das Schöne Nassau, 2. Jhrg., Nr. 11, August 1931, S. 162–163
Camberg im „goldnen Grund“.
in: Der Taunus, 15. Jhrg., Nr. 3, 1. März 1930, S. 34–36
„Wewer Hans“ – Der Hexenpfeifer und Werwolf von Dombach
9-tlg. Serie in: Allgemeine Bürger-Zeitung (Camberger Zeitung) Okt./Nov./Dez 1926
Hof Gnadental
3-tlg. Serie in: Camberger Heimatbote, 1. Jhrg, Nr. 10, 11, 12. Juni 1926
Die Glocke von Alsdorf
Kulturgeschichtliche Skizze aus dem „Goldnen Grund“ (2-tlg.), in: Hessenspiegel – Illustrierte Wochenschrift für Heimat, Kunst und Dichtung, 1. Jhrg, Nr. 10 und 12, Juli 1924
Als der alte Marschall Blücher im „Amthof“ weilte
Zeitungsartikel, August 1937
Der „Amthof“ in Camberg
Aufsatz, 2. Juli 1937