Text und Illus: Jürgen Siebert, 28. Mai 2025
Das Eiscafé Lido, ca. 1965–1990
Das Lido war ein fantastischer Ort, absurd gelegen – und gerade deshalb besonders. Seine Lage ist heute schwer nachvollziehbar, da das Grundstück inzwischen in Bahnhofstraße 2a und 2c geteilt und durch eine Mauer getrennt ist. Das Eiscafé lag zwischen dem altrosafarbenen Kebaphaus Munzur und dem apricotfarbenen Eckhaus zur Limburger Straße. Heute kaum vorstellbar, dass an dieser Stelle einst das Credo „Sehen und gesehen werden“ galt.
Geführt wurde das Lido von einem sympathischen Paar: Ursula „Uschi“ und Sesto Pergolesi, sie eine Cambergerin, er Italiener. Ebenfalls unvergessen: Carmine Cosma, von allen nur „Carmelo“ genannt; er war Kellner dort und hat sich ein paar Jahre später mit dem eigenen Imbiss im Erdgeschoss vom Clubkeller selbständig gemacht – ein Camberger Gastro-Original.
Das Eis vom Lido? Solide. Vanille und Nuss gingen immer, im Sommer auch Erdbeere. Kein Chi-Chi, keine Salted-Caramel-Experimente. Aber darum ging es auch nie.
Was das Lido wirklich ausmachte, war seine Lage direkt am damaligen Verkehrsknotenpunkt: drei Ampeln, zwei Straßenachsen, und wir saßen mitten im Strom. Genau deshalb mieden wir zur Rushhour die Terrasse. Erst nach 19 Uhr und am Wochenende entfaltete dieser Ort seine Magie. Dann wurde die Lido-Terrasse zum Ku’damm-Café. Wir beobachteten die Poser aus den Nachbardörfern beim Vor- und Abfahren, führten quer über die Straße Small Talk oder kommentierten Frisuren und Outfits. Es war nie langweilig im Lido.
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Zum Herpes, ca. 1982–1992
Anfang Dezember 1982 brachte mein Freund Heinz Müller ein Flugblatt zum abendlichen Vorglühen mit. Darauf stand geschrieben: „Um allen Gerüchten ein Ende zu setzen: Wir eröffnen. Modisch erkrankt, mit dem uns eigenen freundlichen Wesen. Die Gaststätte ‚Zum Herpes‘.“ Wir steckten mitten in der Neuen Deutschen Welle. Eine Zeit, in der kein Bandname verrückt genug sein konnte: Geier Sturzflug, Die Radierer, Nylon Euter. Und genau diese Kapelle, unsere Camberger Lokalhelden, eröffnete ein Lokal im benachbarten Oberselters und nannten es wie eine NDW-Band. Das war genau unser Stil, darauf stießen wir erst mal an.
Aber warum „Zum Herpes“? 1982 war nicht nur das Jahr von NDW, sondern auch das Jahr, in dem erste Berichte über AIDS die Runde machten und das Humane Herpesvirus 6 entdeckt wurde. Die Deutsche Apotheker-Zeitung meldete: „Es wurde gerade erst entdeckt, aber mindestens 80 % der Bevölkerung sind latent mit dem Herpesvirus infiziert.“ Ja, Viren waren 40 Jahre vor Corona bereits in aller Munde … genauer: am Mund. Was willst du machen, wenn dich das Virus schon befallen hat? Du nimmst es mit Humor. Genau das taten die Jungs und Mädels von Nylon Euter.
Allen voran Werner Minor: Musiker, Provokateur und Künstler, der mit feinem Humor und einem großen Herz gesegnet war. Leider ist er im Mai 2024 viel zu früh gestorben. Zu Werners Vorbildern zählten die niederländische Band Gruppo Sportivo und der amerikanische Performer Jango Edwards, Mitbegründer der Nouveau-Clown-Bewegung. Dank Werners Persönlichkeit war der „Herpes” nie nur eine Kneipe, sondern ein Treffpunkt mit Haltung und Tiefgang.
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Matchbox, ca. 1981–1986
Ich war mal Mitglied einer Band, und die hieß Taft. Sie existierte von 1981 bis 1982. Die anderen Musiker waren Heinz „Henry“ Fahrner g, der geniale Thomas Rath dr und die Sängerin Barbara Wally. Unser Übungsraum befand sich neben dem Jugendzentrum, in einem Flügel des Amthof-Ensembles. Im Winter 1981 probten wir fast täglich. Es war ein kalter Winter. Im Proberaum stand ein Ölofen, der die Luft nach etwa einer Stunde auf Zimmertemperatur brachte. Den Brennstoff zapfte ich einmal pro Woche mit einem Schlauch aus dem Öltank unserer Zentralheizung im Mühlweg 9 ab.
Die nächstgelegene und gut geheizte Kneipe ohne Spießer war das „Matchbox” in der Strackgasse, das heute „Bertis Pilsstübchen“ heißt. Dorthin gingen wir oft nach den Proben. Es gab eine Jukebox mit den aktuellsten Hits von Soft Cell, Ultravox, Blondie und Quincy Jones, die ich bei jedem Besuch erst mal mit 1 Mark anschmiss. Und man traf großartige Leute, zum Beispiel Pollux. Die Gastwirte waren Anne und Gill: Sie aus Camberg, er aus den USA. Beide waren großartige Gesprächspartner.
(Illustrationen mit Hilfe von KI)
Text und Illus: Jürgen Siebert, 21. Mai 2025
Mitten in den wilden 60er Jahren, Ende 1965, gründete eine Gruppe junger Männer um Manfred Neumann und Walter Lottermann in meiner Heimatstadt den Club von Camberg e. V. Seine Aufgabe: „Kultur, Tradition und Geselligkeit“ zu pflegen. Für diesen Zweck suchte der Verein Anfang 1966 eigene Räumlichkeiten und wurde unter der damaligen Bäckerei Henkel (zuvor Kunst, Frankfurter Straße 10) fündig: drei ungenutzte, miteinander verbundene Gewölbekeller.
Kurz darauf begann Neumann, selbst Architekt, mit der Planung des Aus- und Umbaus. Um den Zugang vom Guttenbergplatz zu ermöglichen, wurde eine zweigeschossige hölzerne Wendeltreppe eingebaut. Ende 1966 eröffnete die Vereinsgaststätte unter dem einladenden Namen „Clubkeller“.
Am 16. September 1967, einem Samstagabend, schreitet der 17-jährige Martin Traut mit einem Stapel geliehener Schallplatten die Holzstufen hinunter. Der Wirt hat ihn eingeladen, zur Unterhaltung der Gäste Musik aufzulegen – ein Versuch. Martin nimmt hinter der Theke Platz, testet das Mikrofon, ordnet seine Notizzettel und bereitet sich auf seinen ersten Auftritt als Discjockey vor.
Diese Bezeichnung war neu; für das Camberger Publikum ist er schlicht der „Ansager“. Kurz nach 20 Uhr begrüßt Traut die rund 60 Gäste und legt gleich richtig los: Platz 11 der aktuellen Hitparade, „Baby Come Back“ von den Equals. Gegen 22 Uhr sind alle mitgebrachten Platten durchgespielt. Noch zwei langsame B-Seiten zum Runterkommen, dann ist der Plattenabend zu Ende. Es war die Geburtsstunde der ersten Camberger Diskothek.
Sieben Wochen später stehen zwei neue Dual-Plattenspieler auf einem speziell angefertigten DJ-Pult. Martin nennt sich nun Rosco, in Anlehnung an sein Vorbild Emperor Rosko, mit bürgerlichem Namen Michael J. Pasternak, Moderator beim legendären Piratensender Radio Caroline, der von einem Schiff vor der britischen Küste Jugendmusik sendete. Mit seinem rasanten, amerikanisch geprägten Moderationsstil wurde der Original-Rosko zum Vorbild für viele europäische DJs.
Rosco mit c – in der Stadt mit C – nennt seine Show Minimax Beat Party, kurz für: Minimum Blabla, Maximum Musik. Er dehnt sie sehr bald auf drei Abende aus, Freitag, Samstag und Sonntag. Am Sonntagnachmittag findet zudem von 15 bis 19 Uhr die wöchentliche Beatparty mit Hitparade statt. Diese Veranstaltung entwickelt sich zum Publikumsmagneten. Durch Mundpropaganda werden Teens und Twens aus Camberg und Umgebung in den Clubkeller gelockt. Als dann auch noch freitags in der Nassauischen Landeszeitung werbewirksam die auf der Party ermittelten Top 10 erscheinen, sind die drei Kellergewölbe jeden Sonntag bis zum Bersten gefüllt.
Getränkekarte des Clubkeller ca. 1968; Vorderseite als PDF laden, Rückseite als PDF laden
Irgendwann wird der hinterste Raum der Gewölbe für Konzerte hergerichtet. Auch die Stamps treten dort auf, allerdings nur zweimal. Der Raum ist eng, die Luft schlecht. Zwei Drittel der Jugendlichen rauchen, viele die ganze Zeit. Martin Traut erinnert sich: „Wenn du ein paar Stunden im Clubkeller warst, hast du nicht nach Kneipe gerochen ... du hast nach Clubkeller gestunken.“ Nach zwei Auftritten war für die Stamps Schluss. Hein Thuy weigerte sich, unter diesen Bedingungen noch einmal dort aufzutreten.
Es war im Sommer 1972, als ich selbst zum ersten Mal die Stufen zum Clubkeller hinabstieg. Schwarzlicht war damals der letzte Schrei: Knallbunte Illustrationen leuchteten an den Wänden wie Neonreklame. Aus den Boxen schepperten „Easy Livin’“ (Uriah Heep), „Liar“ (Three Dog Night) und „Silver Machine“ (Hawkwind). Rainer „Paddel“ Hiltenkamp, der Sohn des Schwimmeisters im Freibad, legte die Platten auf. Er kündigte jeden Song mit verstellter Stimme an und imitierte dabei den US-DJ Wolfman Jack. Unvergesslich.
Einen Höhepunkt erreichte die Camberger Clubkultur übrigens im Jahr 1977. Gleich drei Diskotheken luden zum Tanzen ein: der Clubkeller, der inzwischen Los Caminos hieß, das Groovy im ersten Stock des Nassauer Hof und das Tiffany in der Limburger Straße, heute eine leerstehende Etage über TEDi.
Das Los Caminos (dt: Die Straßen) wurde im Mai 1976 von Königsteiner Nachtclubbesitzer Ingo „Bobby“ Blum und seinem Kelkheimer Freund Dragan Marin aus der Taufe gehoben. Marin: „Das mittlere Gewölbe war der größte Raum, und den haben wir für Live-Musik ausgebaut. Die Jungs von Tiger B. Smith gingen hier ein und aus. Ich habe für Ordnung gesorgt.“ Im Sommer 1977 schloss das Los Caminos aka Clubkeller wieder: Die Underground-Atmosphäre vertrug sich nicht mit dem Glamour von Disco und Night Fever. Nur Kurt & Christa hielte weiterhin die Stellung mit ihrer Imbissbude im Erdgeschoss. Das Highlight vom Grill war der Camburger, „den schaffst du nur mit drei Händen“.
Sieben Jahre später reaktivierten Roger Voll und Dieter „Sam“ Semmler die Kellergewölbe und nannten sie wieder Clubkeller. Nach neun Jahren stieg Sam aus und Roger machte alleine weiter. Ich war dort öfters zu Gast, wenn ich Camberg besuchte. 2001 schloss der Clubkeller und stand für private Anmietung zur Verfügung. Heute befindet sich im Erdgeschoss eine Wohnung.
(Illustrationen mit Hilfe von KI)